Was wäre Luther ohne seinen Landesherrn? (6)

Nicht weit von Wittenberg residierte Friedrich der Weise in Torgau an der Elbe

Persönlich begegnet sind sie sich nie, aber seine Hand hat Kurfürst Friedrich der Weise immer über Martin Luther gehalten. Ohne ihn, den schützenden Kurfürsten, wäre Luther mit großer Wahrscheinlichkeit früher oder später als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.

Wohl eher früher: Nachdem der aufsässige Mönch 1521 die Bannandrohungsbulle frech verbrannt hatte, galt er als Ketzer. Nur auf Betreiben des Kürfürsten erhielt er die Chance auf Gehör bei Reichstag und bekam freies Geleit nach Worms. Als Geächteter wäre er aber möglicherweise schon auf dem Rückweg unter die Räuber gefallen, vielleicht kaiserliche Räuber. Überfallen wurde er tatsächlich, aber von den Männern Friedrichs des Weisen, die ihn auf der Wartburg in Sicherheit brachten. Auch zur Sicherheit für den Kurfürsten, der so offiziell keinen Ketzer in seinem Gebiet schützte. Auf der Wartburg übersetzte Luther das Neue Testament und ging nach zehn Monaten – immer noch unter Lebensgefahr – zurück nach Wittenberg.

Reformation im Zuge eines neuen Selbstbewusstseins

Hätte die Reformation nach einem frühen Tod Luthers überhaupt ihren Weg nehmen können? Luthers fulminanter Auftritt in Worms entsprach genau dem aufkeimenden Selbstbewusstsein der Fürsten und ihrem Widerstand gegen den politischen Führungsanspruch der Päpste. Friedrich den Weisen trieben offensichtlich keine theologischen Interessen, aber für ihn und andere passte der aufsässige Mönch genau ins politische Kalkül.

Bundesgenossen ohne Vertrag

Luthers Vorstellung von einer Rechtfertigung allein aus Gnade und Glauben war Friedrichs Sache zunächst nicht. Aber Luther war Professor an „seiner“ Universität, und da wollte sich der Kurfürst so ohne weiteres nicht von außen reinreden lassen. Und er konnte sich diesen Widerstand leisten, weil er selbst als Nachfolger für den verstorbenen Kaiser Maximilian und somit als Konkurrent zu dem dann gewählten Kaiser Karl V. im Gespräch gewesen war. Auch ohne die juristische Beratung der kurfürstlichen Kanzlei hätte die Luthersache bereits viel früher in einem kurzen Prozess geendet.

Die protestantische Geschichtsschreibung hat Friedrich nachträglich den Namen „der Weise“ gegeben, wofür allerdings keine theologischen Gründe sprechen. Friedrich galt als feinsinniger Geist und kluger Taktierer. Persönlich war er konservativ fromm und besaß eine der größten Reliquiensammlungen der damaligen Zeit; erst auf dem Sterbebett empfing er das Abendmahl in protestantischer Form. Aber die Reformation ermöglichte dem Landesherrn eine radikal neue Definition des Verhältnisses von Staat und Kirche.

Wie sich der fromme Theologe und der Machtpolitiker ergänzt haben

Dieses Verhältnis von Macht und Reformation mag Luther kaum verborgen geblieben sein. So ist der Zusammenhang ersichtlich, dass er durch seine vorzeitige Rückkehr von der Wartburg seinen Landesherrn reichsrechtlich nicht in Schwierigkeiten bringen wollte, indem er einige radikale Änderungen, die während seiner Abwesenheit eingeführt worden waren, wieder zurücknahm. Diese taktischen Züge Luthers sicherten zweifellos den Fortgang der Reformation, trugen aber dazu bei, in dem sonst so kühnen und wortgewaltigen Reformator einen „Fürstenknecht“ zu sehen.

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hat sich gerade die kirchliche Tradition, die sich auf Martin Luther berief, schwer damit getan, aus dem Windschatten der politischen Obrigkeit zu treten, und war anfällig für nationalistische Sichtweisen, die in Luther einen „deutschen“ Helden zu erkennen meinten und in der Reformation insgesamt ein „deutsches“ Ereignis.


Privatdozent Dr. Volkmar Ortmann
im Vorstand des Evangelischen Bundes
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