Martinstag oder Lichterfest?

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Wenn am 11. November ein Reiter, umgeben von einer Kinderschar, durch den Ort reitet, kann dies nur der Heilige Martin sein. Mit bunten Laternen, fröhlichen Gesängen und einem Martinsfeuer spielen Groß und Klein die Legende des Bischofs von Tours nach. Die Tat des römischen Soldaten und späteren Bischofs rührt bis heute Kinder und Erwachsene an, und dies in einer weitgehend entchristlichten Welt.

Für Protestanten sind die Martinsbräuche aus verschiedenen Gründen zu bedenken. Martin Luther hat seinen Vornamen von diesem Heiligen erhalten. An seiner Taufe am 11. November 1483 erhielt er, wie alle Kinder, den Namen des Tagesheiligen, in dem Fall Martin. Die heute oft so aufwändige Namenssuche entfiel damals. Luther hat die Heiligen als Vorbilder im Glauben geschätzt. Und gewiss war ihm die Legende seines Namenspatrons wohlvertraut. Einige von Luthers Aussprüchen zeigt jedoch eine deutliche Nähe. Bei aller Wertschätzung war für Luther eines klar: Menschen sind oft Vorbilder im Glauben, sie werden aber nicht als Heilige angebetet.

Aber auch als Evangelischer Christ lohnt es sich und macht Freude, mit Kindern deren Namensheilige zu erkunden, und zu überlegen, ob diese Vorbilder im Glauben werden können. Eine spannende Übung, die manchem Protestanten womöglich fremd erscheint. Zu empfehlen ist das Ökumenische Heiligenlexikon mit ausführlichen Lebensläufen voller Legenden, die jedoch immer einen wahren Kern beherbergen.  

Martin ist in Savaria, heute Szombathely in Ungarn, als Sohn eines römischen Tribuns geboren. Er wurde Soldat und ließ sich mit 18 taufen. In einer kalten Winternacht, so berichtet die Legende, begegnete dem Reiter am Stadttor von Amiens ein Bettler. Dieser bat ihn um Hilfe, und Martin teilte mit ihm, was er hatte: einen warmen Mantel, den der Soldat mit seinem Schwert geteilt haben soll. Die Legenden berichten von weiteren guten Taten, mit denen Martin Licht in die Dunkelheit zahlreicher Menschen brachte. Später wurde Martin Bischof von Tours.

Das Handeln des Martin von Tours ist und war aktuell. Das ist der Grund für die Laternenumzüge, denen bis heute viele Menschen folgen. Es sind Laternen, weil offenes Feuer zu gefährlich wäre. Die Aktualität der Hilfsbereitschaft und des Einsatzes für andere Menschen wurde beispielsweise im Sommer 2021 deutlich: Als im Juli der kleine Fluss Ahr über die Ufer trat, zerstörte dies die Existenz und sogar das Leben, vieler Menschen. Seitdem sind Hilfskräfte vor Ort und schauen, wie sie beim Wiederaufbau der Region helfen können. Geteilt werden Lebensmittel, Kleidung, Baustoffe, Maschinen, Muskelkraft, aber auch das Miteinander, Füreinander und emotionale Unterstützung – menschliche Wärme eben.

Für viele ist dieser Mann ein Vorbild an Mitgefühl und Hilfsbereitschaft – der Legende nach ohne Eigennutz und Eitelkeit. Auch Martin Luther hat so eine starke Wendung erfahren. Bevor er Mönch wurde, schrieb er: „Alles, was ich tue, tue ich doch nur aus Eigennutz.“ Diesen abzulegen, war sein Ziel, denn er wusste: „Rechte Demut weiß nimmer, dass sie demütig ist; denn wo sie es wüsste, so würde sie hochmütig.“ Und ganz nach Martin von Tours klingt dieser Satz Luthers: „Unser Nächster ist jeder Mensch, besonders der, der unser Hilfe braucht.“

Viele kennen die Hintergründe des Martinstages nicht und feiern am 11. November einfach „Laternenfest“ oder „Lichterfest“, und reduzieren den wertvollen Inhalt auf das Licht und den schönen Schein der Laternen. Doch wer die Traditionen der Rituale kennt, ob er oder sie nun katholisch, evangelisch oder ohne christlichen Glauben ist, kann ebenfalls einen Menschen würdigen, der andere in den Blick nimmt, sie anschaut und ihr Leid mindert.


Stefanie Palme-Becker
Schulpfarrerin in Wiesbaden
stefanie.palme@evangelischer-bund.de