Die Allmacht Gottes und die Macht der Kirche

„Macht ist an sich böse“, so lautet das berühmte Diktum des Schweizer Historikers Jacob Burckhardt. In diesem Satz liegt eine Provokation. Denn zu Ende gedacht, birgt er ein enormes kritisches Potenzial. Wenn Macht heißt, etwas gegen den erklärten Willen eines anderen umzusetzen, notfalls auch mit Gewalt, so muss staatliches Handeln, etwa in Form von polizeilicher oder militärischer Gewalt, aber auch im Justizvollzug in Frage stehen. Und – frisch vom Evangelischen Kirchentag in Nürnberg kommend – sind das ja auch große Debattenstränge unserer Zeit.

Und mehr noch: Wenn Macht an sich böse ist, stehen auch andere Institutionen wie etwa die Kirchen unter „Verdacht“. Sollen sie nicht „sine vi, sed verbo“ handeln, ohne Gewalt und nur durch die Kraft des Arguments, des Wortes? Jede Synode aber und jede Kirchenleitung weiß, dass sie regelbasiert arbeiten und somit im äußersten Fall auch „machtvoll“ durchgreifen muss. Das Dulden von sexualisierter Gewalt über Jahrzehnte hinweg spricht da eine deutliche Sprache.

Allmacht Gottes und menschliches Handeln

In scheinbarem Kontrast dazu, stehen eine Reihe von biblischen Aussagen, die die Schwachheit des Menschen und zugleich die Allmacht Gottes betonen. So zum Beispiel das oft zitierte Wort des Apostels Paulus in 2 Kor 12: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Oder auch viele Aussagen der hebräischen Bibel: Mein ist die Rache, spricht der HERR. Wie also ist die so genannte „Allmacht“ Gottes und menschliches Handeln in Freiheit sinnvoll zusammenzudenken?

Einen der fruchtbarsten Denkansätze hat in diesem Kontext die weitgehend in US-Amerika entwickelte Prozesstheologie entwickelt, die im deutschsprachigen Raum viel zu wenig rezi- piert wurde. Einer ihrer Begründer, der Philosoph Alfred North Whitehead, hat in seinem Hauptwerk „process and reality“ (in deutscher Sprache bei Suhrkamp verlegt) das Wirken Gottes so beschrieben: Gottes Allmacht heißt nicht, dass er allezeit wie ein „deus ex machina“ in die Welt eingreifen könnte. Er hat die Menschen mit der Begabung des freien Willens ausgestattet und greift nun in diese seine Schöpfungsordnung auch nicht mehr durch Zwang ein. So kann es sein, dass der Mensch immer wie- der gegen den guten Willen Gottes verstößt und sich in Kriegen, Unrecht und übergriffiger Gewalt verrennt – so auch in der Kir- che.
Gott leidet mit, wenn Unrecht geschieht

Dennoch steht Gott diesem Tun nicht einfach unbewegt und wertneutral gegenüber. Er drängt die Menschen, das Gute zu tun, sei es durch sein Wort in den Heiligen Schriften, sei es im Gebet, also der Selbstreflexion des Menschen im Angesicht Gottes. Gott drängt die Menschen – aber er zwingt sie nicht. Und mehr noch: Whitehead entwickelt einen kühnen, fast häretischen Gedanken: Gott ist für ihn nicht der „unbewegte Beweger“, sondern es gibt für ihn eine Folgenatur Gottes: Wenn Menschen schuldig werden, wenn Menschen sich Gewalt antun, so leidet Gott mit. Eine zutiefst christologische Aussage, die in Vielem mit dem Gottesbild gerade auch der hebräischen Bibel übereinstimmt.

Dass Gott also die Welt und die Menschen geschaffen hat und sie noch täglich erhält, beinhaltet den Freiheitsraum des Menschen, der sich immer wieder gegen die heilvolle Schöpfungsordnung Gottes vergeht und versündigt. Sei es, dass er andere Geschöpfe Gottes als industrielle Ware misshandelt. Sei es, dass er zusieht, wie die Artenvielfalt der Arche Noah den schnöden Profitbegierden geopfert wird. Sei es, dass ein anderes Land militärisch überfallen wird, um den eigenen Machtbereich – gegen den erklärten Willen des Nachbarlandes – auszudehnen. Macht ist – so abermals Jacob Burckhardt – aufs Engste mit Gier verbunden.

Herausforderung für Kirchen

Die Kirchen stehen in diesem Kontext vor einer ganz besonderen Herausforderung. Denn zum einen ist ihnen mit der vorhandenen machtkritischen Überlieferung ein großer Schatz an die Hand gegeben. Sie können im besten Falle eine Art „Wächteramt“ wahrnehmen, eine Rolle, die im 21. Jahrhundert inzwischen weitgehend von einem kritischen und informierten Journalismus wahrgenommen wird. Eine Identifikation von nationalstaatlichem Handeln und Kirchlichkeit, wie sie etwa in der Spitze der russisch-orthodoxen Kirche wahrnehmbar ist, ist zu- tiefst befremdlich und verstörend. Wo ist da eine unabhängige, kritische Kirche, die den Machthabern „ins Gewissen“ redet? Man kennt solche Abhängigkeiten und solche Überidentifikationen zwischen Staat und Kirche auch aus langen Jahrhunderten des Protestantismus, etwa in der Genese des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Aber auch binnenkirchlich geht es um ein aufgeklärtes Verhältnis zur Macht. Zuweilen boten sich Sätze wie der des Paulus aus 2 Kor 12 an, um ein gleichsam ideologisches Deckmäntelchen über die eigenen, notwendigen Machtstrukturen zu legen. Ein befreundeter Journalist sagte mir einmal: „Am Gefährlichsten wird es in der Kirche, wenn von Schwestern und Brüdern die Rede ist.“

Machtstrukturen offenlegen

Machtstrukturen, auch und gerade in der Kirche, sollten offen- gelegt, transparent gemacht werden. Dies geschieht im Rahmen der öffentlichen Ordnung zum Beispiel durch Gesetze, Verordnungen, möglichst offen zugängliche Kommunikation. Aber auch durch scheinbare Selbstverständlichkeiten wie offene Ausschreibungen von Stellen und demokratische Wahl- verfahren.

Erst nach und nach halten auch in den Kirchen moderne, zeitgemäße Instrumente einer heilsamen Machtbegrenzung und -kontrolle Einzug, wie zum Beispiel Compliance-Ver- fahren, Hinweis- gebende-Portale, wo Menschen sich auch anonym äußern können und verbindlich Auskunft bekommen oder ein aktives und rasch agierendes Beschwerdemanagement. Interessanterweise sind da Unternehmen häufig schon weiter als Kirchen. Sie wissen, was es bedeuten kann, einmal seinen „Ruf“ zu verlieren, die „Marke“ zu beschädigen und so einen – manchmal fast irreparablen – Imageschaden zu erleiden.

„Do not hurt“

Die jahre- und jahrzehntelange Duldung etwa von sexualisierter Gewalt mitten in den Kirchen (wie auch in anderen Institutionen) hat das Potenzial, einen solchen Schaden anzurichten, besonders dann, wenn es systemisch bedingt ist und nicht nur einzelnen Straftätern zuzurechnen ist. Die Begrenzung des menschlichen Freiheitsraums ist dabei klar: Meine Freiheit hört auf, wo ich anderen Menschen schade oder sie verletze. „Do not hurt“ – verletze niemals. So einfach ist das – und so schwer.


Dr. Sigurd Rink
Vizepräsident des Evangelischen Bundes
im Mitgliedermagazin „Evangelische Orientierung“